Ist die Blütezeit des Westens vorbei?

Olivier Kessler ist Direktor des Liberalen Instituts (www.libinst.ch) und Gastreferent an der PRO LIBERTATE Hauptversammlung 2023. In seinem Vortrag weist er auf die Gefahren – und Chancen – für westliche Staaten wie die Schweiz hin.

Europa und Nordamerika stehen derzeit vor riesigen Gefahren, die zum Grossteil aus dem Innern kommen: Werden diese Kräfte nicht in Bann gehalten, droht ein Abstieg der westlichen Welt. Doch es gibt auch Hoffnung.

In seinem lesenswerten Werk «Open» zeigt Johan Norberg ausführlich, dass wirtschaftliche und kulturelle Blütezeiten unabhängig der Religion, der Ethnie und der Epoche an verschiedenen Orten der Welt auftreten können, sei es im heidnischen Griechenland, dem muslimischen Kalifat der Abbasiden, dem konfuzianischen China, dem katholischen Italien während der Renaissance oder in der calvinistischen holländischen Republik. Was haben diese Erfolgsgeschichten gemeinsam? Sie alle waren geprägt durch eine relative Offenheit gegenüber Handel, Migration und neuen Ideen.

Das bedeutet, dass nicht die Überlegenheit einer Religion oder Rasse die entscheidende Rolle spielt. Vielmehr hängt es von den Institutionen und vom Freiheitsgrad ab, ob eine Gesellschaft floriert oder nicht. Das sind einerseits gute Nachrichten für alle Entwicklungsländer dieser Welt, jedoch auch eine schlechte Nachricht für den Westen: Unser Wohlstand ist nicht gottgegeben.

Vor diesem Hintergrund ist es beunruhigend, dass es vermehrt Anzeichen für eine Erosion dieser Institutionen gibt. Das könnte das Ende der aktuellen Blütezeit einläuten, die seit rund 200 Jahren andauert. Welche Gründe sprechen für, welche gegen einen Niedergang?

  1. Gefahr: Dogmen ersetzen Wahrheitsfindung

Eine wachsende Intoleranz gegenüber abweichenden Ansichten ist ein zuverlässiges Indiz für den Niedergang einer Zivilisation. Eine florierende Gesellschaft lebt vom Wettstreit der Ideen, von der Freiheit, aufgestellte Thesen testen und kritisieren zu dürfen. Heute ist an vielen Universitäten im Westen zu beobachten, dass der offene Geist, die Wahrheitssuche und die freie Forschung zunehmend dem Propagieren von Glaubenssätzen weichen. Dies zielt nicht auf wissenschaftlichen Fortschritt ab, sondern auf eine ideologische Gleichschaltung. Bestimmte Meinungen werden als «Angriff auf die Gefühle» interpretiert oder als «inakzeptabel» dargestellt und unter diesem Vorwand verboten, niedergeschrien oder niedergeprügelt. Im Jahr 2018 gaben in einer Gallup-Umfrage satte 37 Prozent der Studenten in den USA an, dass sie es akzeptabel fänden, kontroverse Redner niederzubrüllen. Jeder zehnte Student fand es sogar legitim, Gewalt anzuwenden, um jemanden vom Sprechen abzuhalten. Auch ausserhalb der Unis wird das Diskussionsklima immer gehässiger.

2. Gefahr: Technokratisierung

Ob «Agenda 2030», «Green New Deal» oder andere grossangelegte gesellschaftliche Transformationspläne: Die ambitionierte Agenda der zunehmend etatistisch agierenden internationalen Organisationen, die insbesondere von westlichen Nationalstaaten blind übernommen wird, ist mehr und mehr gezeichnet durch einen naiven Fortschrittsglauben, wonach der Staat per Dekret die Armut überwinden, Bildung und Gesundheit für alle zur Verfügung stellen oder den Klimawandel einfrieren könne. Man glaubt, das Paradies auf Erden schaffen zu können, indem man die Menschen nur entschlossen genug zu ihrem Glück zwinge. Die technokratische Herangehensweise bei allen Problemen lautet: Der Staat findet die beste Lösung und setzt diese überall durch. Das mag verlockend klingen. Doch staatliche Gelder für Technologiesubventionen auszugeben oder die Unternehmen und Bürger mit Zwangsmassnahmen zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen, behindert die Nutzbarmachung des Wissens der Vielen, das über die gesamte Bevölkerung verstreut ist und das über den marktwirtschaftlichen Preismechanismus zum Ausdruck käme, wenn man den Markt nicht durch technokratische Masterpläne unterdrücken würde.

3. Gefahr: Fiskalische Gier

Indem internationale Organisationen und westliche Politiker immer weitere Projekte und Programme auf den Weg bringen und dafür immer mehr Mittel benötigen, wächst auch die fiskalische Gier des Staates. Dadurch werden einerseits dezentrale Finanzierungsquellen von allerlei unternehmerischen Vorhaben immer mehr ausgetrocknet und in die Hände von Monopolisten gelegt, die kein «Skin in the Game» haben, was den wichtigen Prozess von Versuch und Irrtum, von Wettbewerb und Konkurrenz, von Verantwortung und Haftung ausschaltet. Andererseits sinkt auch die Motivation, etwas zu leisten, wenn den Leuten immer mehr Früchte ihrer Arbeit abgenommen werden. Das geschieht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern vollzieht sich über Generationen hinweg durch kulturelle Überlieferung. Es ist zu erwarten, dass künftig die Leistungsbereitschaft unter den neuen Bedingungen der stark angewachsenen Besteuerung auf breiter Ebene sinkt, was auch die Lebensstandards schrumpfen lässt.

4. Gefahr: Zombifizierung der Wirtschaft

Eine ähnliche Entwicklung – sinkende Wohlstandsbildung – wird durch die ständige Rettung «systemrelevanter Unternehmen» vor Konkursen angetrieben (etwa durch verbilligte Kredite oder staatliche Konjunkturprogramme). Grundlage des Fortschritts in einer Marktwirtschaft ist die Tatsache, dass unrentable Firmen, die nicht das produzieren, was die Konsumenten wünschen, wieder vom Markt verdrängt werden. Wenn Grossunternehmen nicht mehr verschwinden dürfen, weil sie «too big to fail» sind, binden sie weiterhin wertvolle Ressourcen, obwohl andere Akteure es besser und kostengünstiger könnten oder sich der Fokus der Menschen verschoben hat, sodass sie ihr Geld lieber für Dinge ausgeben, von denen sie sich mehr Wert versprechen.

5. Gefahr: Übermässige Staatsverschuldung

Ein weiterer Indikator, dass wir vor dem Ende einer Blütezeit stehen, ist die rasant wachsende Staatsverschuldung. Die Staatsakteure geben immer mehr Geld aus, das die Gesellschaft noch gar nicht erwirtschaftet hat. Rücksichtslos schieben die Staatsvertreter damit die Last auf ihre Kinder und Enkelkinder, die sich dann mit einer immer erdrückenderen Schuldenlast herumschlagen sollen. Je höher die Verschuldung, desto schwieriger wird es für jüngere und künftige Generationen, noch denselben Wohlstand zu erwirtschaften, wie wir ihn heute kennen. Sie werden, wie es Roland Baader ausgedrückt hat, «nachhungern müssen, was wir vorausgefressen haben».

 6. Gefahr: Geldpolitisches Spiel mit dem Feuer

Um den durch die stark steigende Verschuldung drohenden Staatsbankrott hinauszuzögern, greifen die Staaten zu ihrer Wunderwaffe: zu einer expansiven Geldpolitik mit ständigen und immer exorbitanteren Geldmengenausweitung und Tiefstzinsen. Das Problem ist, dass der Westen eine vollständige und reinigende Korrektur der Märkte schon seit Jahrzehnten nicht mehr zugelassen hat. Bei jeder sich abzeichnenden Anpassung der Märkte intervenieren Zentralbanken mit einer noch gewaltigeren Geldschwemme und noch tieferen Zinsen, während Politiker immer kolossalere Konjunkturprogramme auf den Weg bringen, die wiederum die Staatsverschuldung anheizen. Damit mag man ein paar Mal Krisen in der Vergangenheit abgedämpft haben, jedoch zum Preis eines Auftürmens des Korrekturpotenzials. Irgendwann werden die Probleme derart gross sein, dass man die Krise nicht mehr mit weiteren Geldinjektionen lösen können wird, weil man ansonsten eine Hyperinflation und damit einen Totalzusammenbruch riskieren müsste. Einzige Alternative bleibt eine verheerende Wirtschaftskrise mit enormen Verwerfungen. Solche Ereignisse könnten ein Katalysator für massive politische Interventionen, finanzielle Repression und massenhafte Enteignungen sein, womit der Westen die wichtigste Institution für seinen Erfolg opfern würde: den Schutz des Privateigentums.

7. Gefahr: Aushebelung des politischen Wettbewerbs

Staaten mit unvorteilhaften Preis-Leistungs-Verhältnissen sind jene Konkurrenzländer mit einer bürgernäheren Politik ein Dorn im Auge. Daher versuchen sie, ihre schlechte Politik auch anderen überzustülpen, um damit deren Attraktivität und Konkurrenzfähigkeit zu verringern. Das tun sie beispielsweise durch internationale Regulierungsbemühungen und «Harmonisierungsbestrebungen», die von internationalen Organisationen vorangetrieben werden. Nebst der Europäischen Union, die die Dezentralität des Kontinents nach und nach durch einen zentralistisch-technokratischen Superstaat ersetzen will, ist ein aktuelles Beispiel die von der OECD forcierte globale Mindestgewinnsteuer für grössere Unternehmen in der Höhe von 15 Prozent, wobei bereits gefordert wird, diese Mindeststeuer auch auf kleinere Akteure auszuweiten, eine Salamitaktik zur Abschaffung des Steuerwettbewerbs also.

Alles aus und vorbei?

Ich würde gerne optimistisch schliessen, auch wenn mir dies angesichts der aktuellen Entwicklungen eher schwerfällt. Doch eine gewisse Hoffnung besteht dennoch – trotz all der oben genannten Entwicklungen. Denn es gibt Indizien, die dagegen sprechen, dass sich die aktuelle Blütezeit zu Ende neigt.

1. Hoffnung: Fehlende Alternativen

Erstens gibt es derzeit keine anderen konkurrierenden Supermächte neben den USA und Europa, die konsequent (und nicht nur partiell) mehr Freiheiten garantieren. Die Gefahr, dass im grossen Stil «Human Ressources» und Kapital in eine andere Region abwandern, wo sie zu grösserer Entfaltung kommen könnten, scheint aktuell überschaubar zu sein. Die Überzeugung, dass China auf lange Frist den Platz des Westens einnehmen wird, ignoriert den enormen Rückfall Chinas in planwirtschaftliches und technokratisches Denken in den letzten rund 10 Jahren, nachdem sich das Land zuvor einige Jahrzehnte lang geöffnet hatte (und die Wirtschaft prompt stark gewachsen ist). China verliert dadurch seine Innovationskraft und wird eine allfällig kurzfristige Spitzenposition nicht lange behaupten können.

2. Hoffnung: Überraschende Erstarkung des Widerstands

Zweitens steigt im derzeitigen Klima der Orientierungslosigkeit merklich der Bedarf an Einordnung und alternativen Lösungsansätzen, die sich vom Etatismus abgrenzen. Das könnte zum Erstarken neuer liberaler Bewegungen führen, die mit der aktuellen Misere aufräumen wollen. Vielleicht erheben sich aus der Asche des beginnenden Niedergangs ja plötzlich überall neue Margareth Thatchers, die radikal mit dem wohlstandsverwöhnten Zeitgeist des Etatismus brechen, auch wenn leider mindestens so gut die Chance besteht, dass autoritäre und noch staatsverliebtere Führungsfiguren als heute mehrheitsfähig werden, die uns ins totale Chaos und Kriege stürzen könnten.

3. Hoffnung: Technologische Innovationen

Drittens könnten neue Erfindungen und Technologien, von denen wir noch gar nichts wissen oder die kürzlich entstanden sind, Verbesserungen herbeiführen. Kryptowährungen könnten trotz aller Kinderkrankheiten einen möglichen Ausweg aus der geldpolitischen Sackgasse der inflationierenden Staatswährungen bieten. Neue zensurresistente Social-Media-Plattformen könnten Ausweg bieten aus der unsäglichen «Cancel Culture». Überraschende Sezessionen oder die Gründung neuer Gebietskörperschaften in Form von Freien Privatstädten oder Freigemeinden könnten den politischen Wettbewerb befördern. Es leben heute so viele Menschen wie noch nie, was auch bedeutet, dass es noch nie so viele Köpfe gab, die am Fortschritt tüfteln und nach überraschenden Auswegen aus der jetzigen Misere suchen können.

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